Die Geschichte der CoSims

Eine Abhandlung von Ulrich Blennemann M.A.

Ein historisches Simulationsspiel (oder einfacher: eine historische Simulation) stellt eine Hybride aus einem historischen Buch und einem Spiel dar. Wie die historische Monographie behandelt die historische Simulation ein bestimmtes geschichtliches Ereignis, mag es nun ein kleiner Ausschnitt aus einer Schlacht, ein ganzer Feldzug oder ein kompletter Krieg sein. Während man als Leser eines Buches aber „passiv“ den Ausführungen des Autors folgt, ermöglicht die historische Simulation das „aktive“ Eingreifen ins Geschehen und dadurch auch Veränderungen im Ablauf – wie bei einem Spiel.

James F. Dunnigan, einer der profiliertesten Simulationsspieleentwickler (und bei internationalen Krisen und Konflikten ein häufiger Gast beim Sender „CNN“), bezeichnet Simulationen als „Paper Time Maschine“. Sie erlauben es, tief in die historische Materie einzudringen und Fragestellungen und Probleme unmittelbar aus der Sicht der historischen Akteure wahrzunehmen. Um dies deutlicher zu machen, werde ich im folgenden auf die einzelnen Elemente einer historischen Simulation detaillierter eingehen.

Einfach formuliert, kann man sich ein historisches Simulationsspiel als eine Art von Schach vorstellen – allerdings ist das Spielbrett, da es dem historischen Gelände nachempfunden ist, komplizierter, die „Spielfiguren“ repräsentieren die tatsächlich vorhandenen historischen Verbände, und die Regeln, vor allem die für Bewegung und Kampf, sind weitaus umfangreicher und ausgefeilter. Gegenwärtig gibt es drei unterschiedliche Arten von historischen Simulationen: Brett-Simulationen, Computer-Simulationen und Tabletop-Simulationen.

Brett-Simulationen verwenden eine Papierkarte (aus normalen Spielen bekannt), die zumeist zur besseren Regulierung der Bewegung in Hexagonfelder aufgeteilt ist, ein Regelhandbuch und bedruckte „Spielsteine“ aus Pappe, die sogenannten „Counter“.

Computer-Simulationen benutzen den Bildschirm als „Karte“; Spielsteine werden per Mausklick über den Monitor-Spielplan geschoben. Zudem besitzen Computer-Simulationen in Form der meist im Programm enthaltenen „Artificial Intelligence“ (AI) einen allzeit bereiten Gegner.

Tabletop-Simulationen schließlich greifen auf Spielfiguren aus Zinn- oder Plastikfiguren und auf ein handmodelliertes Gelände (das „Tabletop“) mit maßstabsgetreuen Häusern, Wäldern etc. als Spielfeld zurück – ähnlich den “ militärischen Sandkastenspielen“. Obwohl eine größere Tabletop-Simulation mit mehreren hundert Figuren sicherlich ein farbenprächtiges und eindrucksvolles Spektakel darstellt, weist sie gegenüber den beiden anderen Simulationsspielearten doch gewichtige Nachteile auf: Zum einen erfordert die Erstellung des Geländes und das historisch genaue Bemalen der oftmals winzigen Figuren eine große Menge an Zeit und Geschick, zum anderen schränken Tabletop-Simulationen die „Anwender“ in ihrer Vielfalt ein. Während der Spieler (im Jargon der Simulationsspieler auch gerne „Simulant“ genannt) bei Brett- oder Computer-Simulationen heute in die Rolle Wellingtons bei Waterloo, morgen in die Robert E. Lees bei Gettysburg und übermorgen in die Hannibals bei Cannae schlüpfen kann, konzentrieren sich „Tabletopper“ meist auf eine historische Epoche, da die Anschaffung verschiedener Armeen sehr kostspielig ist.

Alle Arten der Simulationsspiele haben ein Ziel gemein: historische Ereignisse nachzustellen und Alternativen aufzuzeigen. Während also die historische Ausgangssituation vorgegeben wird, können die Spieler im folgenden von den Entscheidungen der damals Handelnden abweichen und zu unterschiedlichen Entschlüssen kommen. Dies macht einen großen Reiz der historischen Simulationen aus. Ein Beispiel: Es handelt sich um eine Simulation der Kampfhandlungen am Südflügel der Ostfront im Winter 1942/43. Der sowjetische Spieler hat den historischen Vorgaben folgend die deutsch-rumänischen Linien durchbrochen und Stalingrad eingeschlossen. Für den deutschen Spieler stellt sich nun die Frage, ob er mit seinen Verbänden im Kessel verbleiben und auf Entsatz hoffen oder, solange es noch möglich ist, den Ausbruch befehligen soll. Während letztgenannte Möglichkeit die Rettung der 6. Armee bedeuten mag, kann sie aber durch das rasche Freiwerden der sowjetischen Truppen rund um den Belagerungsring zum völligen Zusammenbruch der deutschen Front im Süden der Ostfront und einem „Über-Stalingrad“ im Kaukasus führen.

Um historische Abläufe zu simulieren, verwenden Simulationen unterschiedliche Ansätze. Genau wie es Bücher gibt, die auf 150 Seiten ganze Kriege abhandeln, aber auch Werke, die nur Teilaspekte einer Schlacht genauestens untersuchen, weisen die Regelwerke von Simulationen alle erdenklichen Komplexitätsgrade auf. A House Divided vom Game Designers4 Workshop versucht, den gesamten Amerikanischen Bürgerkrieg mit acht Regelseiten zu simulieren, während This Hallowed Ground (The Gamers, Inc.) mehr als 50 Seiten nur für die Nachstellung der Schlacht von Gettysburg benötigt. Auch in punkto Größe und Spielzeit weisen historische Simulationen große Unterschiede auf: A House Divided kommt mit einer relativ kleinen Karte und 160 Spielsteinen aus; This Hallowed Ground verfügt über 5 Karten von je ca. 55 x 85 cm und fast 1.700 Spielsteine. Um diese Simulation zu spielen, müssen mindestens 100 Stunden Spielzeit veranschlagt werden. Jeder Spieler sollte je nach verfügbarer Zeit und Platz sowie der Erfahrung mit historischen Simulationen entscheiden, welche Studie er auswählt.

Schließlich dürfte es klar sein, daß die Regelwerke nicht nur in ihrem Umfang sondern auch in ihrem Inhalt äußerst unterschiedlich sind – antike Schlachten liefen eben unter grundverschiedenen Bedingungen wie z.B. die des Zweiten Weltkrieges ab.

Die Geschichte der historischen Simulationsspiele

Es läßt sich heute nicht mehr feststellen, wann und wo Menschen militärische Operationen zum ersten Mal „spielerisch“ nachgestellt haben. Allerdings weisen Aufzeichnungen darauf hin, daß Chinesen ca. 3000 v.Chr. ein Kriegsspiel mit dem Titel „Wei-Hai“ entwickelten. Keine Bildnisse oder Artefakte dieses Spieles sind erhalten. Die überlieferten Beschreibungen deuten jedoch an, daß es dem modernen „Go“ ähnelte. Die Spieler versuchten, mit farbigen Steinen einen möglichst großen Bereich des „Spielfeldes“ zu kontrollieren. Das noch heute bekannte (und beliebte) „Go“ wurde ungefähr 2200 v.Chr. entwickelt. Aus Indien um 500 n.Chr. überliefert ist „Chaturanga“. In diesem Spiel zogen zwei bis vier Spieler vier Bauern und je einen König, einen Elefanten, ein Pferd und einen Streitwagen über ein in Quadrate eingeteiltes Spielbrett. Das Ziel des Spieles war die Gefangennahme der gegnerischen Spielfiguren und nicht die Kontrolle von Raum auf dem Brett.

Schach stellte eine Weiterentwicklung von „Chaturanga“ dar und wurde in Südeuropa um 1400 erwähnt. Trotz des hohen Abstraktionsgrades des Spieles weist Schach einige Elemente der Kriegführung der Zeit auf. Spätestens mit der allgemeinen Einführung von Feuerwaffen im 17. Jahrhundert verlor Schach jedoch den letzten „Simulationsgehalt“, den es besessen haben mag. Dies wurde auch von Zeitgenossen erkannt. So entwarf Christopher Weikhmann im Jahre 1664 in Ulm eine Schachvariante, die militärische Details stärker berücksichtigte. Sein Königsspiel besaß ein größeres Spielbrett und 30 Figuren pro Spieler. Wie auch beim Schach benannte er diese nach zeitgenössischen politischen oder militärischen Funktionsträgern – König, Marschall, Oberst, Hauptmann, Leutnant, Kanzler, Herold, Ritter, Kurier, Adjutant, Leibwache, Hellebardier, Gemeiner. Jede der Figuren verfügte über spezielle Bewegungsmöglichkeiten.[4] Im Grunde handelte es sich beim Königsspiel und vielen ähnlichen Kreationen, die zusammen unter dem Namen „Militärschach“ oder „Kriegsschach“ geführt wurden, um wenig mehr als ausgefallene und überkomplizierte Varianten des klassischen Schach. Aktuelle militärische Begebenheiten oder technische Entwicklungen wurden praktisch nicht berücksichtigt. Dennoch pries Weikhmann sein Spiel nicht nur als Zeitvertreib an, sondern auch als Studienobjekt für diejenigen, die sich mit militärischen und politischen Strukturen beschäftigten. Allerdings ist es kaum vorstellbar, daß zeitgenössische Militärs diese abstrakten Spiele ernsthaft als Lern- und Trainingsmittel ansahen.

Obwohl Königsspiel und seine Varianten bestenfalls als rudimentäre Simulationen zu bezeichnen sind, führte die Beschäftigung mit den Schach-Regeln zur Einführung von drei zentralen Elementen, die auch heute noch für jede historische Simulation von Bedeutung sind. Zwar kann man nicht sagen, wann die einzelnen Elemente zum ersten Male auftauchten, alle drei finden sich jedoch in einem Spiel des Deutschen Dr. C.L. Helwig aus dem Jahre 1780. Helwig benutzte erstens eine einzelne Spielfigur als Repräsentanten für eine größere Anzahl von Soldaten oder eine militärische Einheit, ersetzte zweitens das abstrakte, zweifarbige Spielbrett durch eine farbige , verschiedene Geländetypen darstellende Spielfläche und setzte drittens einen Schiedsrichter zur Leitung des Spieles ein. Als Lehrer und Erzieher am Hofe des Herzogs von Braunschweig sah Helwig sein Spiel sowohl als Unterhaltung als auch als Lernhilfe für die ihm anvertrauten jungen Adeligen an. Mit Hilfe seiner Kreation wollte er zum Nachdenken über wichtige militärische Fragen anregen und Grundkenntnisse der militärischen Kunst und Wissenschaft vermitteln.

Obwohl Helwigs Spiel sehr innovativ war, lehnte es sich in anderer Hinsicht doch immer noch stark an Schach an. Die einzelnen Spielfelder blieben quadratisch, und die Spielfiguren – jetzt Infanteriebataillone, Kavallerieeskadrone oder Artilleriebatterien – bewegten sich ähnlich wie Schachfiguren. Immerhin war dem Spiel ein gewisser Erfolg beschieden; es wurde auch in Frankreich, Vsterreich und Italien gespielt.[6] Weiterentwicklungen und Variationen im nächsten halben Jahrhundert unterhielten die hauptsächlichen Adressaten, den Adel.

Ende des 18. Jahrhunderts widmete sich der Gelehrte und Militärschriftsteller Georg Venturini aus Schleswig der Entwicklung eines neuen Kriegsspieles. 1797 stellte er unter dem Titel „Regeln für ein Neues Kriegsspiel für den Gebrauch an Militärlehranstalten“ sein stolze sechzig Regelseiten umfassendes Werk vor. Als Spielbrett verwendete Venturini wie auch schon Helwig ein Quadratraster. Er vergrößerte die Fläche jedoch auf 3.600 Felder, wobei jedes Feld eine Quadratmeile repräsentierte. Im Unterschied zu früheren Versuchen stellte das Spielfeld jetzt aber einen realen Geländeausschnitt dar – die Grenze zwischen Frankreich und Belgien. Die Spielfiguren simulierten nicht nur Infanterie- und Kavalleriebrigaden, sondern auch Artillerie, Ausrüstungsgegenstände, Brücken, Befestigungen, Depots und selbst Feldbäckereien. In \bereinstimmung mit der zeitgenössischen Kriegskunst und der Bedeutung der rückwärtigen Linien für Armeen mußten die Figuren eine Verbindung zu ihrer jeweiligen Basis besitzen. Bei der Bewegung der Spielfiguren versuchte sich Venturini vom Schachvorbild zu lösen und ihnen „realistischere“ Operationsmöglichkeiten einzuräumen. So sah er sogar reduzierte Bewegungen in den Wintermonaten vor.[8]

Wie der Titel schon besagt, hatte Venturini den Gebrauch seiner Entwicklung in erster Linie an militärischen Einrichtungen vorgesehen. Angesichts der Größe des Spieles und des Umfangs des Regelwerkes kam ein Einsatz zur „bloßen Unterhaltung“ ohnehin kaum in Frage. Erst im kommenden Jahrhundert sollte historischen Simulationsspielen der Durchbruch gelingen. Dies hing vor allem mit drei Entwicklungen zusammen. Im 19. Jahrhundert vergrößerten sich die Heere im Unterschied zu den vergangenen Jahrhunderten rasant, so daß Manöver mit großen Truppenkontingenten zunehmend schwierig oder sogar unmöglich wurden. In gleichem Maße wurde durch die industrielle Entwicklung das Kriegshandwerk „komplizierter“. Infanteriewaffen und Artilleriegeschütze verfügten über wesentlich höhere Reichweiten, Zielgenauigkeiten und Schußfolgen. Darüber hinaus ermöglichte die Eisenbahn eine viel raschere Verschiebung und Konzentration von Armeen, während das Ende des letzten Jahrhunderts eingeführte Maschinengewehr dem Verteidiger einen enormen Feuerkraftvorteil bot. Aber auch die in vielen Staaten, nicht zuletzt in Preußen-Deutschland, fortschreitende „Militarisierung der Gesellschaft“ spielte eine bedeutsame Rolle. Die Beschäftigung mit dem Militär und allen anhängenden Themenbereichen galt als „schick“ und wurde von weiten Teilen der bürgerlichen Gesellschaft vollzogen.

Die weite Verbreitung der Kriegsspiele im 19. Jahrhundert ist in erster Linie Baron von Reisswitz, Kriegs- und Domänenrat in Breslau, zu verdanken. Reisswitz ersetzte das ebene, plane Spielfeld älterer Spiele durch einen Sandkasten, in dem das aktuelle Gelände durch Modelle dargestellt wurde. Die Spielsteine waren aus Holz und so geschnitzt, daß sie maßstabsgetreu die ungefähre Frontbreite der simulierten Einheiten in einer Schlacht wiedergaben.[9] Durch glückliche Umstände wurde von Reiche, preußischer Offizier und Lehrer der Prinzen Friedrich und Wilhelm, auf das Reisswitzsche Kriegsspiel aufmerksam. 1811 und 1812 führte Reisswitz das Spiel den preußischen Prinzen und sogar König Friedrich Wilhelm II. vor, die es sehr wohlwollend aufnahmen. Populär wurde es dennoch nicht, da es einfach zu unhandlich und ein schneller Transport unmöglich war. Nun kam Reisswitz4 Sohn, Leutnant Georg Heinrich Rudolf Johann von Reisswitz, die entscheidende Idee. Er ersetzte den Geländesandkasten durch eine detaillierte topographische Karte im Maßstab 1:8000. Das Regelwerk umfaßte jetzt alle nur erdenklichen Operationen von Verbänden bis zur Division und zum Korps. Es wurde schließlich 1824 unter dem Titel „Anleitung zur Darstellung militärischer Manöver mit dem Apparat des Kriegsspiels“ publiziert.[10] Nach Intervention des Prinzen Wilhelm konnte Reisswitz sein Spiel dem preußischen Generalstabschef von Müffling präsentieren. Am Ende der Vorführung soll Müffling ausgerufen haben: „Dies ist kein Spiel! Dies ist Vorbereitung auf den Krieg! Ich muß es der gesamten Armee empfehlen!“[11] So verwundert es nicht, daß er eine sehr wohlwollende Anzeige im Berliner „Militär-Wochenblatt“ veröffentlichte.

BeiKriegsspiel wurden auf einer topographischen Karte kleine Metallfiguren verschoben, die die militärischen Formationen repräsentierten. Die Regeln enthielten genaue Hinweise für die Bewegung dieser Figuren. Auch für Gefechte gab es detaillierte Regelabschnitte; zudem entschied ein Schiedsrichter bei Unklarheiten. Im Laufe der Jahre erreichte Reisswitz4 Entwicklung eine gewisse Popularität im preußischen Offizierskorps – selbst Helmuth von Moltke spielte Kriegsspielseit 1828.[12] Mit der Einführung neuer, komplexer Waffensysteme und in der Absicht, die Simulation „realistischer“ zu machen, wuchs die Regellänge in den kommenden Jahrzehnten jedoch dramatisch an. Nur noch absolute Kriegsspiel-Experten waren nun in der Lage, sich mit dem Spiel zu beschäftigen. Dennoch wurde es auch in den USA, in Großbritannien, Italien, Frankreich, Rußland und Japan eingeführt.[13]

Aber auch abseits des Reisswitzschen Kriegsspiels fanden sowohl auf ziviler als auch auf militärischer Ebene neue Entwicklungen statt. Der vor allem durch „Die Zeitmaschine“ und „Krieg der Welten“ bekannte Autor Herbert George (H.G.) Wells publizierte 1913 Little Wars, eine Anleitung für Kriegsspiele mit Miniaturen. Die Regeln waren einfach, und auf einen Schiedsrichter wurde verzichtet – so erfreute sich seine Entwicklung schon bald recht großer Popularität.[14] Für die Marine hatte schon einige Jahre zuvor Fred T. Jane, Herausgeber der jährlichen „Jane4s Fighting Ships“-Reihe (ursprünglich „All the World4s Fighting Ships“), eine Simulation zum Austragen von taktischen Schiffsgefechten mit maßstabs- und detailgetreuen Schiffsminiaturen entworfen. Die unterschiedlichen Stärken und Schwächen der Schiffstypen konnten die Spieler anhand der Werte in den „All the World4s Fighting Ships“-Jahrbüchern ermitteln.

Mit der stetigen Vergrößerung der Heere wuchs auf militärischer Ebene zeitgleich das Interesse an strategischen Kriegsspielen, die in der Lage waren, nicht nur Schlachten, sondern auch Mobilisierungen, Aufmärsche und Eisenbahnbewegungen zu erfassen – Dinge, die in der Realität kaum zu erproben waren. Praktisch alle Armeen der Welt erkannten den Wert dieser Simulationen und griffen auf sie zurück. Zugleich berücksichtigten einige dieser Studien auch noch eine weitere Ebene, indem zunächst politische Reaktionen auf militärische Kriegsvorbereitungen anhand von Planspielen ausgelotet wurden.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden Simulationen auf Seiten der Militärs zunächst jahrzehntelang vernachlässigt. Hier konzentrierte man sich auf das sogenannte „Operations Research“, das aber historische Dimensionen weitgehend ignorierte[15]. So überließ man Zivilisten die Beschäftigung mit historischen Simulationsspielen. Die Wurzel der modernen, kommerziellen Simulationen liegt in Baltmore, Maryland. Hier entwarf Charles S. Roberts 1953 das Spiel Tactics und vertrieb es über die Stackpole Company, einen Buchverlag. Tactics verwendete eine rechteckige, in Quadrate aufgeteilte Karte, auf der zwei hypothetische Staaten um die Vorherrschaft kämpften. Als „Einheiten“ verwendete Roberts bedruckte Papplättchen, die die militärischen Symbole für Panzer, Fallschirmjäger, Infanterie etc. aufwiesen. Jede Einheit besaß einen numerischen Wert für Kampfstärke und Bewegungsmöglichkeiten. Gefechtsergebnisse wurden mit Hilfe der Kampfstärken über eine Kampftabelle (Combat Results Table, CRT) und einen Würfel (für Zufallsereignisse) ermittelt.

Tactics, in einer Auflage von 2.000 Stück gefertigt, verkaufte sich recht gut. Roberts beschloß deshalb 1958, aus seinem bisherigen Nebenverdienst seinen Hauptberuf zu machen und gründete The Avalon Hill Company. Bis 1963 produzierte seine Firma 18 Spiele, davon 9 historische Simulationen mit den Titeln Gettysburg, Tactics II, U-Boat, Chancellorsville, D-Day, Civil War, Waterloo, Bismarck und Stalingrad. Obwohl die Auflagen kräftig stiegen, geriet Roberts durch die schnelle Firmenexpansion in finanzielle Schwierigkeiten und mußte The Avalon Hill Company an den Hauptgläubiger abtreten. Bis 1969 blieb The Avalon Hill Company, von kleinen Ausnahmen abgesehen, quasi die einzige Firma, die ernsthafte historische Simulationen herstellte. Meist erschienen pro Jahr zwei neue Produkte.[16]

1969 begann dann eine neue Firma aus New York, Simulations Publications, Inc. (SPI), auf sich aufmerksam zu machen. Gegründet von jungen Simulationsspielern, führte sie eine Reihe von Neuerungen ein. SPI setzte konsequent auf eine breite Produktpalette und stellte bis zu 30 Titel pro Jahr her, 6 davon im hauseigenen Magazin Strategy & Tactics, das jeweils mit komplettem Simulationsspiel ausgeliefert wurde. Außerdem erhöhte SPI die Komplexität, aber auch den „Realismus“ der Simulationen erheblich. Anstelle des einheitlichen Kampfwertes traten etwa Modifikationen für Feuerstärke, Moral und Trainingszustand der Einheit. Schnell wuchs der Markt für historische Simulationsspiele und zog weitere innovative Firmen an. Wurden 1965 insgesamt 65.000 historische Simulationsspiele verkauft, waren es 1970 129.000, 1975 743.000 und 1980 2,2 Mio.[17] Auch das US Militär wurde auf kommerzielle Simulationen und ihre Möglichkeiten aufmerksam und beauftragte SPImit der Entwicklung einiger Simulationsspiele zu Trainingszwecken. 1976 erschien z.B. Firefight[18], zuerst als offizielles Ausbildungsinstrument für die US Army Infantry School, dann als kommerzielles Produkt für die Vffentlichkeit.

Der Boom der siebziger Jahre mit seinen hohen Verkaufszahlen ebbte allerdings in den nächsten beiden Jahrzehnten wieder stark ab. 1985 wurden noch 900.000 historische Simulationen verkauft, 1990 450.000 und 1997 lediglich 200.000.[19] Dies hat jedoch nichts mit der Qualität der einzelnen Produkte zu tun; diese dürfte niemals besser als heute gewesen sein. Vielmehr hängt dieser Rückgang in erster Linie mit einem veränderten Freizeitverhalten zusammen. Beherrschten in den siebziger Jahren historische Simulationen den sogenannten „Hobby-Spielemarkt“, traten nach und nach Rollenspiele, meist im Fantasy- oder Science Fiction-Genri angesiedelt, Computerspiele und Sammelkartenspiele wie „Magic“ an die Stelle der Simulationen. Diese alle besitzen gegenüber historischen Simulationen den Vorteil, daß sie wesentlich kürzere Regeln aufweisen, weniger Platz benötigen und geschichtliche Vorkenntnisse unerheblich sind.

Durch das Sinken der Auflagenzahlen verließen viele Firmen den nur noch wenig lukrativen Simulationsspielebereich. Dennoch befassen sich auch heute noch diverse, meist sehr kleine Anbieter mit Simulationen. Sie sind überwiegend in den USA angesiedelt. In Deutschland konnten historische Simulationen im kommerziellen Bereich nie Fuß fassen. Zum einen ist der traditionelle Spielemarkt mit Brettspielen für die ganze Familie wesentlich stärker als in den anglo -amerikanischen Ländern und bindet so Spieler, die nach einer interessanten Herausforderung auf dem Spieltisch suchen, zum anderen hat sich der „Hobby-Spielemarkt“, ein völlig anderes Spiel-Genri, erst in den letzten 10 Jahren einen größeren Marktanteil erkämpfen können – als die „Blütezeit“ der Simulationsspiele in den USA bereits vorüber war. Schließlich darf auch Deutschlands besondere Geschichte nicht vergessen werden: Nach zwei verlorenen Weltkriegen gilt jede Vermengung von „Krieg“ und „Spiel“ als verpönt.

Außerhalb des kommerziellen Bereiches werden Simulationen heute wieder verstärkt in der militärischen Ausbildung eingesetzt. Allerdings benutzen die von Militärs verwendeten Simulationen fast alle hochkomplexe, dabei aber nicht notwendigerweise realistischere Computerprogramme zum Ausloten von Fragestellungen. Manchmal allerdings bleibt auch diesen Computeranalytikern nur der Rückgriff auf ein 30 Dollar-Produkt, das von jedermann in besser sortierten Fachläden erworben werden kann. So suchte man im Pentagon am Morgen des 2. August 1990, als der Irak die Besetzung von Kuwait noch nicht ganz abgeschlossen hatte, nach Möglichkeiten, den weiteren Gang der Dinge simulieren zu können. Die vorhandenen Programme brachten keine Aufschlüsse. So wurde Mark Herman, Autor diverser kommerzieller Simulationen und Mitarbeiter von BDM International Inc., einem Washingtoner „think tank“, angerufen und gebeten, mit dem Mitte der achtziger Jahre bei Victory Games herausgekommenen Gulf Strike im Pentagon zu erscheinen. Am Nachmittag des gleichen Tages hatte Herman einen Vertrag abgeschlossen und eine Partie Gulf Strike begonnen – mit Experten für den Mittleren Osten als Spielern. Die Resultate dieser Partie bestimmten zu einem guten Teil die Entscheidungen des Pentagon in der Irak-Krise während des Augusts 1990.[20]

Der Nutzen historischer Simulationsspiele

Da historische Simulationsspiele nicht nur dem Freizeitvergnügen dienen, sondern auch von Militärs zur Ausbildung herangezogen wurden und werden, stellt sich die Frage: Welchen Nutzen haben historische Simulationen im Bereich der militärischen Ausbildung? Was kann man aus ihnen lernen?

Zunächst einmal handelt es sich bei der Beschäftigung mit Simulationen um eine „kreative“ Tätigkeit. Im Unterschied zum Buch, wo der Leser passiv den Ausführungen des Autoren folgt (oder auch nicht…), greift der Spieler aktiv ins Geschehen ein und kann Ereignisse durch sein Handeln verändern. Sicherlich ist es nicht nur für den Offiziernachwuchs wichtig, sich im raschen Treffen von Entscheidungen von potentiell großer Tragweite zu üben.

Ein Mitglied einer Teilstreitkraft gewinnt durch historische Simulationsspiele einen Einblick in die Stärken und Schwächen anderer Waffengattungen und auch in die Möglichkeiten des Zusammenwirkens von Truppenteilen. Durch die intensive Beschäftigung mit Terrain-Karten wird besonders der Blick fürs Gelände und dessen Bedeutung geschärft.

Rein didaktisch gesehen, besitzen Brettsimulationsspiele übrigens einige Vorteile gegenüber teuren Computersimulationsmodellen. Zwar rechnen letztere meist Gefechtsergebnisse minutiös aus, doch der Spieler kann vielfach dem Ablauf nur schwerlich folgen. Warum durchschlägt mein T-34 auf 1500 m mühelos die Frontpanzerung eines PzKw II, aber nicht die eines PzKw V? Während in einer Computersimulation nur „gefeuert“ wird und dann das Ergebnis erscheint, verfolgt man in Brettsimulationen anhand der Feuerkraft, der Panzerungsstärke und Feuertabellen quasi den Lauf des Geschosses. Der Spieler wird im obigen Beispiel erkennen, daß die Frontpanzerung des „Panthers“ eben ungleich stärker ist als die des PzKw II. Auch das Ziehen von Pappspielsteinen im Unterschied zum Drücken von Knöpfen auf der Tastatur eines Computers führt zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit der simulierten Materie und dadurch zu einem höheren Lernerfolg.

Darüber hinaus dürfte jedem einsichtig sein, daß historische Simulationen als Trainings- und Ausbildungsergänzung sehr geringe Kosten verursachen und damit in Zeiten leerer Kassen eine echte Alternative darstellen.

Aber auch für „Nicht-Militärs“ sind historische Simulationen von Interesse. Um noch einmal auf den Simulation-Buch-Vergleich zurückzukommen: Selbstverständlich können historische Simulationen auch erst ein historisches Interesse wecken. Wer sich z.B. am Spieltisch intensiv mit dem Koreakrieg auseinandergesetzt hat, wird vielleicht später zu Büchern zu diesem Thema greifen und so seine Kenntnisse erweitern.

Schließlich stellen Simulationen, ebenso wie Schach, ein intensives und gleichzeitig doch entspannendes Freizeitvergnügnen dar, bei dem der Geist auf angenehme Weise am Spieltisch angeregt wird.

An die Frage, was historische Simulationsspiele im Rahmen der militärischen Ausbildung zu leisten vermögen, schließt sich aber natürlich auch direkt die Gegenfrage an: Was können Simulationen nicht? Welche Gefahren bergen sie?

Nun, trotz der oben benannten Vorteile können sie in keinem Fall die Ausbildung im Gelände oder am Gerät ersetzen. Niemand sollte sich einbilden, er wäre in der Lage, einen Verband im Gelände sinnvoll zu dislozieren, nur weil er dies auf einer Simulationsspiel-Karte perfekt beherrscht. Simulationsspiele sind eben eine Ergänzungdes Trainings, nicht aber ein Ersatz.

Zweitens ist die Beschäftigung mit Simulationsspielen nicht „gefahrlos“. Gerade bei hochkomplexen Computersimulationen, bei denen man nicht mehr den Weg des Entwicklers bis zum Ergebnis verfolgen kann, muß man einkalkulieren, daß von falschen Prämissen ausgegangen wurde. Da aber die Qualität des „Inputs“ auch die Qualität des „Outputs“ bestimmt, kann es in diesem Bereich leicht zu falschen Schlußfolgerungen kommen. Diese Gefahr besteht allerdings nicht nur bei Computersimulationen. Als SPI 1976 das oben bereits angesprochene Firefight für die US Army entwickelte, wurde gefordert, die Simulation solle auf realistische Weise taktische Gefechte in Mitteleuropa nachstellen. SPI4s Entwurf kam anhand von Geländeanalysen zu dem Ergebnis, daß ein klares Schußfeld selten auf mehr als 500 Meter zu erwarten sei. Diese Schlußfolgerung mißfiel der Army jedoch; sie insistierte, daß Spieler Panzerkanonen für Schüsse auf Distanzen von mehr als 2000 Metern anwenden müßten. Daraufhin wurde das Gelände geändert, Wälder, Hügel und Ortschaften entfernt. Jetzt waren zwar Feuerkämpfe auf große Entfernungen möglich, das Gelände entsprach aber nicht mehr „typischem Terrain in Mitteleuropa“. Außerdem baute SPI im Sinne von Clausewitz „Friktionen“ ein – gestörte Verbindungen, überforderte Untergebene, Mißverständnisse etc. Die US Army Infantry School forderte jedoch die Entfernung dieses wichtigen Elementes mit der Begründung, „in der US Armee gebe es keine Befehlsprobleme“. Wer sich im folgenden mit Firefight beschäftigte, wird vielleicht falsche Schlüsse für einen späteren, möglichen Kampfeinsatz in der Bundesrepublik gezogen haben.[21]

Trotz der niedrigen Kosten stellen historische Simulationen hohe Anforderungen an die Spieler. Die Regeln sind meist umfangreich und erfordern eine Einarbeitungszeit. Dazu beträgt die Spielzeit in jedem Falle einige Stunden, manchmal mehrere 100 Stunden. Es ist also unmöglich, sich ohne Vorbereitung an eine Simulation zu begeben und sofort Erkenntnisgewinne zu erzielen.

Schließlich werden ab und an aus den Medien kritische Stimmen zu historischen Simulationsspielen laut. „Kriegstreiber“ und Neo-Nazis würden auf dem Wohnzimmertisch per Würfelwurf bedenkenlos töten; „Lehnstuhlgenerale“ versuchten verlorene Schlachten und Kriege doch noch zu gewinnen. Natürlich kann niemand die unterschiedlichen Motivationen der Spieler von historischen Simulationen vorhersagen oder bestimmen. Dennoch sind mir persönlich rechtsextreme Tendenzen in dieser Spieleszene unbekannt. Die oben angesprochenen hohen Anforderungen von historischen Simulationen machen den Einstieg eben nicht leicht, ebenso schieben die fast ausschließlich in englischer Sprache vorliegenden Regeln einfältigeren Geistern einen Riegel vor.

Literatur:

  • Allen, Thomas B.:War Games. The secret world of the creators, players and policy makers rehearsing World War III today, New York u.a. 1988
  • Dunnigan, James F.:The complete Wargames Handbook. How to play, design & find them, New York 1992
  • Perla, Peter P.:The Art of Wargaming, Annapolis 1990
  • The Staff of Strategy & TacticsMagazine (Hg.):Wargame Design. The history, production and use of conflict simulation games, New York 1983
  • Wolf, Robert:Konfliktsimulations- und Rollenspiele: Die neuen Spiele, Köln 1988